Jeglicher Diskriminierung entgegentreten!
04. Nov 2008
Vor 70 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938
verwüsteten die Nationalsozialisten in Deutschland die Gotteshäuser der
Juden, schändeten die Heiligen Schriften, raubten die Kunstschätze und
setzten die Synagogen in Brand. Tausende Juden wurden misshandelt und
in Konzentrationslager verschleppt. Mit dieser Schandtat, die als
Reichspogromnacht in die Geschichte einging, setzten die
Nationalsozialisten die systematische Ausgrenzung und Verfolgung der
jüdischen Bürger fort, die mit der diskriminierenden Judengesetzgebung
ab dem Jahre 1933 begonnen hatte. In dieser Nacht überschritten die
Nationalsozialisten die Grenze zur offenen und massenhaften Gewalt, die
in den Völkermord führte. Wenige Monate später, mit Beginn des Zweiten
Weltkrieges, begann die Ermordung von 6 Millionen europäischer Juden,
die in den Vernichtungslagern bis zur industriellen Perfektion
betrieben wurde.
Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland lange gedauert,
bis sich der Staat, die Kirchen und die einzelnen Menschen ihrer
Verantwortung gegenüber dem Geschehen bewusst wurden und der Opfer der
Shoa öffentlich gedachten. Seit Jahrzehnten finden nun zum 9. November
vielerorts Gedenkveranstaltungen statt. Weitere Gedenktage und -orte
sind hinzugekommen. Aber: Kein nationaler Gedenktag für die Opfer der
Shoa, kein Denkmal für die vernichteten Juden Europas in der Hauptstadt
Berlin und keine der zahlreichen Gedenkveranstaltungen zur
Reichspogromnacht können gewährleisten, dass die Erinnerung an die
Opfer der Shoa und an die Täter im kulturellen Gedächtnis unseres
Volkes verankert bleibt. Wir beobachten bei Älteren ebenso wie bei
Jüngeren durchaus auch den Wunsch nach einem Schlussstrich unter die
Geschichte von Auschwitz. Mit zeitlichem Abstand und schwindendem
persönlich-biografischen Bezug wachsen die Fragen: Warum erinnern?
Warum sich der Verantwortung für eine Schuld stellen, die nicht die
eigene ist?
Verdrängen und Abwehr aber sind gefährlich, denn: Der Schoß ist
fruchtbar noch. Antisemitismus und Rassismus sind in unserer
Gesellschaft nicht nur latent vorhanden, sondern werden manifest: in
der Propaganda rechtsextremer Gruppierungen, in ihrem offenen
Uminterpretieren und Verharmlosen der Geschichte und in ihren
aggressiven Parolen gegen Migranten. Weite Kreise der sog.
gesellschaftlichen Mitte neigen dazu, solchen Auffassungen zuzustimmen.
In kulturell attraktiven Angeboten wie z.B. Zeltlagern und
Rockfestivals wird jungen Menschen unverblümt Nazi-Ideologie
eingetrichtert. Akte körperlicher Gewalt hingegen überlassen die Täter
an den Rednerpulten gerne jugendlichen Kameradschaften. Jüngst wurden
in Berlin Mahnmale der Opfer des Nationalsozialismus geschändet. Die
rechtsextremistischen Gewalttaten bleiben auf erschreckend hohem
Niveau. Wieder werden Menschen in Deutschland verfolgt, weil sie anders
sind.
Der 70. Jahrestag der Pogromnacht fordert den Staat ebenso wie die Zivilgesellschaft heraus:
- Die überlebenden Opfer der Shoa brauchen weiterhin die Solidarität der Gesellschaft.
- Die Verantwortlichen für die Pogrome vor 70 Jahren
sind, soweit noch nicht geschehen, trotz ihres Alters für ihre
Unrechtstaten zur Rechenschaft zu ziehen.
- Öffentliche Räume, die für die Juden in Deutschland
von hoher Sensibilität sind, z.B. Denkmäler und Gedenktage, müssen von
politischen Demonstrationen frei gehalten werden, um einem Missbrauch
dieser Orte und Daten durch Rechtsextremisten vorzubeugen.
- In unseren Kirchen ist einem religiösen Antijudaismus
entgegenzuwirken, wenn z.B. am Karfreitag wieder für eine Bekehrung der
Juden gebetet werden soll.
- Jeglicher Form von Ausgrenzung und Diskriminierung
von Mitbürgerinnen und Mitbürgern ist entschieden entgegenzutreten.
Hier sind alle Bürgerinnen und Bürger gefordert, auch in Wohnzimmern
und an Stammtischen fremdenfeindlichen Äußerungen zu widersprechen.
- Das Amt eines/einer Antisemitismus-Beauftragten muss
von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragen werden und neben
der originären Aufgabe der Aufdeckung antisemitischer Strömungen auch
über den Zusammenhang von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufklären.
Vor allem aber darf die Einrichtung einer solchen Institution nicht
dazu führen, dass die Gesellschaft als Ganze ihre Verantwortung
gegenüber den Gefahren des Antisemitismus und Rassismus an dieses Amt
delegiert.
- Es bedarf einer umfassenden politischen Unterstützung
wie finanziellen Absicherung der verschiedenen Initiativen und
Programme gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus.
Insbesondere Konzepte einer antirassistischen Bildungsarbeit und einer
Pädagogik gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit müssen
langfristig gefördert werden, ebenso ihre Verbreitung und Umsetzung.
Vor 70 Jahren war es in einer zivilisierten Gesellschaft wie der
deutschen möglich, dass der Staat die Vernichtung eigener Bürger
betrieb, die Verbrechen aktiv von Industrie und Bürokratie unterstützt
wurden und die Mehrheit der Gesellschaft teilnahmslos zusah, mitmachte
oder profitierte. Nur wenige Menschen fanden den Mut dieser Politik zu
widerstehen und den Verfolgten zu helfen. Der Jahrestag der Pogromnacht
mahnt Staat, Kirche und Gesellschaft heute entschieden gegen alle
Formen von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einzutreten.
pax christi wird sich weiterhin in diesem Sinne engagieren.
Fulda / Berlin, den 4. November 2008